Unstillbare Sehnsucht

Max Brand © Walter Szmolyan

Max Brand © Walter Szmolyan

„I am the Machine“ – Theatralische Expression und der Glaube an die Maschine.
Zur Elektroakustik des Komponisten Max Brand
(Christian Scheib)

Durch die vielen Etappen meines Lebens zieht sich ein Faden, die unstillbare Sehnsucht nach dem Theater.

WIE dramatisch ernst jener Satz von Max Brand, dem diese zwei Worte entnommen sind, von Max Brand selbst gemeint gewesen war, hat bis heute kaum jemand verstanden. Auch nicht die „Elektroakustiker“, die aber zugleich glücklicherweise die einzigen waren, die Max Brands Erbe überhaupt ernst nahmen. „Durch die vielen Etappen meines Lebens zieht sich ein Faden, die unstillbare Sehnsucht nach dem Theater“ hält er schon fest, als die entscheidenden Phasen seines Lebens noch bevorstehen, nämlich in der rückblickend sogenannten Zwischenkriegszeit. Aber genau das ist auch die Zeit des kurzfristigen Erfolgs von Max Brand und unabhängig davon die Zeit, in der sich seine Denkmuster verfestigen: Theatralische Expression und Maschinengläubigkeit.

Von einer „bewegten Bühne“ träumt er 1926 in einem Aufsatz für den „Anbruch“, von einer „polyphonen Bewegung“ von Dekorationsteilen, Vorhängen, Licht und Klang, in die die menschlichen Darsteller „schicksalsmäßig“ geworfen würden. „Abseits der Realistik“ sollte die zukünftige Bühnenkunst sein, „vollkommen irreale Vorgänge“ zeigen, und doch reüssiert Max Brand schließlich mit der „Zeitoper“ Maschinist Hopkins, die zwar extrem erfolgreich war, aber von den exponiert Progressiven genauso wie von den Konservativen entsetzt kommentiert wurde: „Kino Kitsch mit Musik!“ heißt es 1929, und Theodor W. Adornos Analyse ergab schlicht das Fehlen von „klaren Konturen des Klassenkampfes“.

Danach ging es sukzessive schief: Künstlerisch ebenso wie privat. Seine erste Frau starb, aber dank Anna, seiner späteren zweiten Frau, gelang die Flucht vor den Nazis. Von der trotz der schrecklichen Lebensumstände dieser Jahre „unstillbaren Sehnsucht nach dem Theater“ zeugen die nicht zuletzt unvollendet gebliebenen Opern und Libretti, aber auch Fragmente von Filmdrehbüchern und Entwürfe von Radiohörspielen 1942/43 für die NBC-Widerstandssendungen aus New York. Auch sein letzter Zyklus elektronischer Musik – die ILIAN-Suite (1965-73) – ist Bühnenmusik, Musik zu einem Ballett mit dramatischem, sich vage an griechischen Mythen orientiertem Inhalt. Eigentlich findet sich im gesamten elektronischen Nachlass von Max Brand nicht ein einziges Stück, das nicht für theatralische Einsätze gedacht war, für multimediale Performances wie die „Transparencies in Motion“ oder für Ballett wie ILIAN oder für Verfilmung wie The Astronauts.

Nachdem Brand ab 1956 sowohl mit amerikanischen Laboratorien wie auch mit Herbert Eimert in Köln Briefkontakt aufgenommen hatte, entstand sein Studio auf Long Island in der Nähe New Yorks mit zeitweiliger Unterstützung durch Robert Moog, der Synthesizerteile nach Brands Vorschlägen baute. Dieses Unikat früher Elektronik, an dem neben Brand und Moog noch andere Techniker, vor allem der befreundete Fred Cochran mitgearbeitet hatten, befand sich jahrzehntelang in Langenzersdorf, im „Max-Brand-Studio“ des „Hanak-Museums“, beziehungsweise heute teileise im IMA in Hainburg. 1975 waren Max und Anna Brand nach Österreich zurückgekehrt und in ein Haus in Langenzersdorf gezogen. Brand vertauschte während der letzten Jahre seines Lebens irrtümlich Bänderhüllen und überspielte Originalbänder. Ein Großteil seines elektronischen Oeuvres ist daher nicht oder nur mit extremem Aufwand zu identifizieren oder zu rekonstruieren.

Im Langenzersdorfer Archiv in den 80er Jahren mit Hillfe der damaligen technischen Möglichkeiten von Christian Scheib als mögliche, circa 30minütige Illian-Version kategorisiert, jetzt aufgefunden und hörend verifiziert von Elisabeth Schimana ist diese Ballettmusik für diese Ausstellung und CD gewissermaßen neu erfunden. Und es existiert ein Handlungsablaufplan inklusive sekündlich/minütlich genauer choreographischer, beziehungsweise inhaltlicher Anweisungen und Erläuterungen. Den im Booklet wiedergegebenen Anweisungen folgend lässt sich Max Brands theatralische Energie Szene für Szene nachvollziehen.

Mit dem Titel ILIAN verweist Brand einerseits auf die letzten Buchstaben seines vollständigen Vornamens Maximilian, anderseits auf die von griechischen Pseudo-Mythen geprägte Atmosphäre seiner letzten Werke. Brand kannte die Bücher des beinah gleichaltrigen Schriftstellers Robert Graves, wie zum Beispiel den 1955 veröffentlichten Roman „Homer`s Daugther“, und die inhaltlich überlieferte Tanzszenenfolge zu seinem Stück aus der ILIAN – Serie erzählt vom Wechsel von Matriarchat zu Patriarchat auf einer fiktiven griechischen Insel wie als Abwandlung des Opferrituals aus Strawinskys Sacre mit verkehrten Vorzeichen.

Wohl denkt Brand in jenen kurzen und seltenen Perioden, während derer sich der Aufbau des Studios zu seiner Zufriedenheit, zu entwickeln scheint, wieder an die Komposition von nun elektronischen Opern. Doch realisiert werden kürzere, etwa zwanzigminütige Werke und Zyklen. Mit dem elektronischen Opus The Astronauts schließt Max Brand 1962 sowohl inhaltlich wie produktionstechnisch an seine lang zurückliegende Begeisterung für eine auf einer „Philosophie der Technik“ beruhende Weltsicht an. „Philosophie der Technik“ lautet der Titel eines in den späten 20er Jahren mit hohen Auflagen gedruckten Buches des konservativen Philosophen Friedrich Dessauer. Eine von Max Brand in The Astronauts mit elektronischen Trauermarschfragmenten vertonte Ehrerbietung vor den Opfern des technischen Fortschritts erinnert in ihrer Wortwahl an die von Dessauer seinem Technik-Buch vorangestellte Widmung an die „unbekannten Helden, in Dunkelheit Opfernden, Vergessenen“.

Inmitten des halluzinatorisch dröhnenden Elektroakustik-Sounds ist es diese Stimme, pathostrunken hollernd und verzweifelnd übersteuert, die einem in die Knochen fährt. In knacksender Spannung war zuvor der Start vorbereitet worden, zischend und krachend die Rakete gestartet und schließlich atmosphärisch klirrend in den Weltraum geglitten: Zu diesen Klängen in den ersten Minuten von Max Brands Tonbandkomposition The Astronauts (1962) sind ebenfalls schon Stimmen zu hören, diesseits von jeglichem Pathos allerdings. Brand hatte NASA-Aufnahmen der Funksprüche zwischen der Bodenstation und John Glenn während dessen ersten Weltraumfluges als Grundlage für seine elektroakustische Ode verwendet: Ein pathetisches Oratorium zu Ehren eines Gottes, der da heißt Technik.

„Glad to meet you, Mr. Brown. I am the Machine“. Der technisch-künstlerische Visionär sucht sich ein Sprachrohr – und schon geht sein Ich auf in Schaltkreisen. In unnachahmlicher Verschränkung von Expressivität und Maschinenglauben formuliert der Komponist mit Sprechpassagen wie diesen – aus einem skizzierten Aufführungsprojekt zu Beginn der 1960er Jahre – sein elektronisches Credo. Das fingierte Autobiographische der Maschine gerät zur selbstreferenziellen Identitätsschleife des Komponisten: Rückkoppelung „at its best“.

Max Brand, 1896 in Lemberg geboren und 60 Jahre später zum einsamen Elektronikpionier in New York mutiert, erreichte mit seiner elektronischen Musik kaum mehr eine Öffentlichkeit und auch nur selten ein künstlerisches wie technisches Produktionsniveau, das seinen eigenen Ansprüchen genügt hätte. Aber er hinterließ aus diesen Jahren nicht nur eine wunderbare Maschine und eine Sammlung von Tonbändern, sondern auch die Fama von seiner künstlerisch integren Besessenheit – und die Kunde von einem Zeitalter, das an technische Utopien schlichtweg glaubte. Nach Jahrzehnten als Komponist, in denen sich zwischen 1920 und 1955 europaweit Erfolg und Ignoranz abwechseln, in denen er vor den Nazis von Wien über Prag, Paris, Lausanne und Rio de Janeiro nach New York flieht, beschließt er, fortan ausschließlich mit elektronischen Mitteln zu arbeiten.
Das war 1956 prinzipiell nicht einfach, aber Brands Sonderrolle beruht darauf, dass er – im Gegensatz zu den meisten damals an Elektronik interessierten E-Musik-Komponisten – keinen Zugang zu den großen, im Aufbau befindlichen Studios der amerikanischen Universitäten und europäischen Radiostationen fand. Also begann er, gemeinsam mit Freunden, sein eigenes Studio einzurichten. Sie stießen auf den jungen Robert Moog, kooperierten an der Entwicklung einiger Komponenten, kauften einige gerade serienreif gewordene Geräteteile – und im Laufe von gut zehn Jahren entstand dabei jene unikate Maschine, die heute noch existiert und vielleicht das Vermächtnis dieses Künstlers ist. Brands The Astronauts ist wohl sein bekanntestes elektroakustisches Werk und zugleich auch in der Konzeption symptomatisch für sein ästhetisches Empfinden. Brand inszeniert kurz vor Ende seines Stücks eine Art Trauermarsch als Fluchtpunkt der Technikverehrung. Opfer müssen nolens volens gebracht werden, darauf insistiert der Sprecher mit beschwörender Stimme, während im Hintergrund dieselbe Stimme – diejenige Max Brands – ein Requiem aeternam intoniert, eine wahrlich abgründige Szene. Was man in seiner dramaturgischen Anlage als Oratorium für Sprecher, Orchester – ersetzt durch Tonband – und Chor erkennen kann, geriet in der Produktionsrealität zur rabiat-pathetischen „homestudio-production“ als Zeitdokument, dem Gott Technik ein Denkmal setzend, das in seiner Gleichzeitigkeit von unbedingtem Furor und durchlittener Erbärmlichkeit seinesgleichen sucht.