portrait #06 Maryanne Amacher

Ein Portrait von Elisabeth Schimana & Lena Tikhonova [2013]

IMAfiction #06 13 Maryanne Amacher from IMA on Vimeo.

Interviews und Fieldrecordings: Elisabeth Schimana | Kamera und Schnitt: Elena Tikhonova | Schnittassistenz: Olga Pohankova | Musik: Maryanne Amacher | Soundediting: Elisabeth Schimana, Robert Eder | gedreht in Wien, Berlin und Kinston N.Y | Format: 16:9 | Sprache: Englisch / Deutsch | Untertitel: Deutsch / Englisch | Dauer: 30 min

unterstützt von niederösterreich kultur, bm:ukk, maecenia, ars electronica, singuhr-hörgalerie und The Maryanne Amacher Archive

Wahrnehmungsgeographien Helga de la Motte-Haber

Maryanne Amachers Werk wird zuweilen als Installationskunst missverstanden. So bezeichnete Kyle Gann (1995, S. 284) in seinem Buch American Music in the Twentieth Century sie als »one of the best installation artists«. Sie selbst gab allerdings in einem Interview 1988 dazu Anlass (vgl. Straebel, 2008, S. 36). Gemeint war aber von ihr damit das technische Arrangement der Mikrofone. No More Miles- An Acoustic Twin (1974) war jedoch eine regelrechte Installation im Walker Art Center (Minneapolis). In einem Raum mit großem Nachhall, zusätzlich zu Licht und Bild (beziehungsreich Man Rays Foto Driver), waren ›Geisterstimmen und -schritte‹ zu hören, übertragen aus einer Autovermietung. Amachers Arbeiten gehören in den Bereich der Klangkunst, aber sie haben jedoch in der Regel wie ein Musikstück einen Anfang und ein Ende.

Sie war eine Komponistin, die dem Zusammenwirken von Raum, Zeit und Klang, das in der neuen Musik eine besondere Bedeutung gewonnen hatte, verpflichtet war. 1967 begann sie mit der Serie City Links und schuf bis 1980 eine Reihe von Werken, bei der sie von entfernten Orten live akustische Ereignisse in ein Studio sendete. Die Übertragung der Geräusche von acht Orten in Buffalo (1967) mischte sie zu einem Radiostück von 28 Stunden. Sie benutzte den Herkunftsraum der Klänge wie einen großen Synthesizer für eine elektroakustische Komposition. Ihr Interesse richtete sich dabei auf Dimensionen wie die räumliche Tiefe oder die Lokalisation der Klänge, damit auf musikalische Parameter, durch die sich gleichzeitig auftretende Ereignisse unterschieden. Jedes traditionelle Orchester bringt durch die Positionierung der Instrumente solche Wirkungen hervor, die aber von untergeordneter Bedeutung sind. In der elektroakustischen Musik dienten sie zuweilen, etwa bei Karlheinz Stockhausen im Gesang der Jünglinge, einer Erweiterung des musikalischen Materials. Auf ein genuin musikalisches Verständnis Amachers weist die Verwendung des Ausdrucks ›Trio‹ bei Intelligent Life (1979) hin. Der Jazzmusiker George Lewis blies Posaune im Hafen von New York, nahe an einem Mikrofon stehend. Die Aufnahme, auch mit entfernter wirkenden Geräuschen des Hafens, wurde in ein Studio gesendet, wo John Cage einen Text las und dies alles wurde gemischt weiter in ein Konzert in The Kitchen in New York geleitet. Drei Räume, drei Musiker waren die Spieler. Ein theoretischer Bezugspunkt für Amacher war das von Carl Gustav Jung 1930 entwickelte Konzept der Synchronizität, das nicht zuletzt durch Jungs Freundschaft mit Daisetz Suzuki eine große Resonanz in den USA gefunden hatte. Jung hatte Synchronizität (im Unterschied zu bloßer Synchronität) als ergänzendes Prinzip zur Kausalität formuliert. Akausale, gleichzeitig erfolgende Ereignisse werden dabei verstanden als sinnhaft aufeinander bezogen, obwohl solche Zusammenhänge nicht durch Ursache und Wirkung erklärt werden können. Synchronizität ist ein Prinzip zum Weltverständnis, das im Übrigen auch im Zufall jenseits der Rationalität als sinnstiftende Erklärung gedacht ist. Anfänglich definierte Amacher Synchronizität als gleichzeitiges Hören von Räumen, die voneinander entfernt sind, aber es wurde doch schon ein Aspekt betont, der in ihrem späten Werk spielte, nämlich die Veränderung des Bewusstseins, die eintritt, wenn man über seine Wände hinaushört.

Die multimedialen Arbeiten Music for Sound Joint Rooms seit den 1980er Jahren erweiterten die Ideen von Klangobjekten in der Nähe mit einem definierten Ort und solchen in unklarer Entfernung. Nun aber wurde auch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher akustischer Phänomene durch die Gegenwärtigkeit des Rezipienten im Raum intensiviert. Sorgfältig und arbeitsaufwendig untersuchte Amacher die Struktur der jeweiligen Orte, um das zu schaffen, was sie als ›structured borne sound‹bezeichnete, der den jeweiligen Ort mit seinen Schallreflexionen spiegelt, im Unterschied zu ›air borne sound‹ einer bloßen durch Luftschwingung transportierten Schallwelle. Die Lautsprecher konnten gegen die Wand gerichtet angebracht werden, um deren Klangeigenschaften hörbar zu machen. Amacher schuf Klangszenarios, die wie auf einer Bühne die akustischen Gestalten inszenierte (staged). Räume wurden außerdem im Klangtheater untereinander verbunden. Die Komponistin steuerte von einem Mischpult aus mehrere Tonbandgeräte, die sich als obertonreiche Klangschichtungen in polyphonen Strukturen mit großer Intensität durch die Räume bewegten. Die Architektur war Ausgangspunkt. Sie wurde 1987 auch visuell überformt, z. B. durch ein Bühnenobjekt, nämlich das aus dem Opernfundus entliehene abgeschlagene Haupt von Johanaan aus der Salome, oder ein aufblitzendes Video eines Gemäldes William Blakes. Diaprojektionen warfen quer durch die Räume Bilder von anderen Orten, von Menschen und abstrakten rituellen Symbolen. Da sich die Besucher frei umher bewegten, erschienen sie als animierende Silhouetten auf diesen Projektionen. Theatrale Situationen entstanden, in die der Besucher einbezogen war. Amacher sprach von Wahrnehmungsgeographien: »I create scenarios to enhance perceptual geographies among mind, body and environment« (Tom Hight, 1981, S.142). Die Dramatisierung von Räumen durch Klang und Licht intendierte einen Einbezug des Rezipienten, dessen sinnliche Erfahrung eine Weiterentwicklung erfahren sollte. Amacher war davon überzeugt, dass neue Codes zur Wahrnehmung erforderlich seien, die eine evolutionäre Höherentwicklung der Wahrnehmung erforderlich machen würden. In einer ihrer Arbeiten, Sound House (1985), hatte sie die Seite eines Buches Olaf Stapleton Last and First Men aus dem Jahr 1930 aufgeschlagen, wo zu lesen war: »The third species was particularly developed in hearing and in emotional sensitivity to sound an rhythm«. Amacher war fasziniert von biochemischen und neurophysiologischen Forschungen. Neue neuronale Prozesse sollten stimuliert werden. Dies bedeutete auch, dass sie die Grenzen der Wahrnehmung zu überschreiten versuchte. Die Lautstärke vieler ihre Arbeiten berührte eine absolute Schwelle des menschlichen Hörens. Sie war zugleich notwendig, um virtuelle akustische Eindrücke zu erzeugen, nämlich Töne, die in den abgestrahlten Klängen nicht vorhanden waren. Sie bilden sich bei hoher Dynamik durch das Zusammenwirken der Schallwellen vor allem als Differenztöne aus. Solche ›additional tones‹ spielen in der Musik von Edgard Varèse eine Rolle. Amacher versuchte durch den Schalldruck, sie so wirken zu lassen, als würden sie im Ohr selbst entstehen. Dabei stellte sie genaue Berechnung von Frequenzbildungen an (vgl. Rötter, 1987). Auch die untere Wahrnehmungsschwelle, wo das menschliche Ohr bei zu geringer Intensität des Schalls keine Empfindungen mehr vermittelt, versuchte Amacher zu verändern durch die sogenannten ›Aftersounds‹. Die als leise beschriebene Musik zu Merce Cunninghams Ballett Torse (1976) machte davon Gebrauch. Hohe Töne, die akustisch nicht mehr präsent waren, wirkten in der Wahrnehmung etwa acht Sekunden weiter, ehe ein neuer Ton eingefädelt wurde. Solche Nachbilder entstehen optisch wie akustisch dadurch, dass das ikonische wie das ekonische Gedächtnis jenseits einer unmittelbaren Stimulation Reize noch eine Weile festhält, ehe sie verblassen. Sie spielen immer beim Musikhören eine Rolle, es würden sonst keine Töne zu Melodien verwoben. Amacher lotete die Nachbilder jedoch bis an den Rand eines virtuellen Wahrnehmungserlebnisses aus.

Amachers Arbeiten sind temporär. Was an Tonaufnahmen existiert, bietet nur einen schwachen Abglanz der ursprünglichen Wirkung. Da sie vor Ort jeweils die Anordnung von Lautsprechern gemäß spezieller Bedingungen festlegte, liegen auch hierzu ungenügende Angaben vor. Geblieben sind keine wieder aufführbaren Werke, sondern Dokumente, die ganz neuartige philologische und kuratorische Herausforderungen darstellen. Sie gehen auch über das hinaus, was man als Ortsspezifik bezeichnet hat, wobei je nach Sorgfalt der Aufzeichnung eines Künstler eine Wiederholung möglich sein kann. Amacher hat Situationen geschaffen, die auf einen Raum abgestimmt sind und eine performative Vervollständigung durch den Besucher erfordern. Das neue ästhetische Denken einer solchen ›situational aesthetic‹ (Victor Burgin) wie auch einer ›art contextual‹ (Jan Swidzinski) wurde zwar schon in den 1960er Jahren angesprochen. Situationsästhetik wurden jedoch erst in jüngerer Zeit mit der ›esthétique relationelle‹ (Bourdiaux, 1998) erneut zum Gegenstand des Nachdenkens auch im Hinblick darauf, wie temporäre Kunst, die in Kontexte und Situationen eingebunden ist, mit dem Gestus des Aufbewahrens vereinbart werden kann. Besonders im Bereich klangkünstlerischer Arbeiten entstehen bezüglich der hinterlassenen Dokumente große Herausforderungen bezüglich einer angemessenen Präsentation. Speziell für die Arbeiten von Amacher, für die Gedanken an eine Weiterentwicklung von kognitiven Leistungen so typisch waren, wird damit ein zwar ein neuer, aber dem Denken der Künstlerin kaum fremder Aspekt angesprochen. Er könnte zur Nachhaltigkeit der Werke beitragen.

Verwendete Literatur
Bourriaud, N. (1998), Esthéthique relationelle, Dijon: Les Presses du Réel.
Gann, K. (1997), American Music in the Twentieth Century, Belmont, CA: Wadsworth/ Thomson.
Hight, T. (1981), The Arts (Music), Omni 4 (2), S. 32 und S. 142/3.
la Motte-Haber de, H. (1992), In den Extremen der Dynamik. Maryanne Amachers Wahrnehmungslandschaften, Positionen 10, S. 33-36.
Rötter, G. (1987), Maryanne Amacher: Die Dramatisierung der Musik durch den Raum, Jahrbuch Musikpsychologie 4, S. 97-99.
Straebel, V. (2008), Zur frühen Geschichte und Typologie der Klangkunst, in: Klangkunst, hg. von U. Tadday, München: text und kritik, S.24-46.