1961 lebt Eliane Radigue mit ihrer Familie in New York, wo sie nicht nur maßgebende Persönlichkeiten aus der Welt der Kunst kennenlernt (sie spielt Schach mit Marcel Duchamp), sondern auch enge Kontakte zur Musikszene knüpft (James Tenney, den sie als ihren Mentor betrachtet, Philip Glass, Steve Reich und John Gibson werden gute Freunde von ihr). Nach der Trennung von Arman im Jahr 1967 wird Eliane Radigue Assistentin von Pierre Henry, mit dem sie über ein Jahr lang zusammenarbeitet, wobei sie vor allem an der Fertigstellung der Apocalypse de Jean mitwirkt. Da die Realisierung dieses monumentalen Werkes sehr arbeitsintensiv ist, überlässt ihr Pierre Henry zwei Tolana-Tonbandgeräte und ein Mischpult, damit sie sich zu Hause ein kleines Studio einrichten und voll und ganz auf die Produktion konzentrieren kann. Ihr erstes eigenes Werk Jouet électronique (1967) hat Radigue noch im Studio von Pierre Henry realisiert, alle weiteren entstehen von nun an bei ihr zu Hause. Ihre musikalische Ästhetik wird vom Minimalismus ihres Studios mitbestimmt, da sie als künstlerisches Mittel und Material vor allem Feedback einsetzt, das sie mit intensiver Studiotechnik manipuliert: Verlangsamung und Überlagerung, akustische Rückkopplungen zwischen zwei Tonbandgeräten etc.
1969 beendet sie ihre Arbeit für Pierre Henry, um sich fortan ganz dem eigenen musikalischen Schaffen zu widmen. In den Jahren 1969 und 1970 entwickelt sie einen höchst eigenständigen Ansatz, um die klanglichen Möglichkeiten der Feedbackmanipulation voll auszuschöpfen. Radigue komponiert zunächst Musik von unbegrenzter Dauer, die an einem bestimmten Ort permanent gespielt werden soll, aus mehreren unterschiedlich langen Tonbandloops besteht und sich im dahinfließenden Mix ständig verändert. So etwa In memoriam Ostinato (1969), Omnht (1970) und Vice Versa, etc… (1970) – Werke, die von der Galerie Lara Vincy jeweils in Form einer Schatulle mit mehreren Tonbändern und in einer signierten und auf zehn Stück limitierten Auflage verkauft werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die in den Räumlichkeiten von Yvon Lambert uraufgeführte Komposition Σ=a=b=a+b (1969), die später als in beliebiger Geschwindigkeit und Kombination abzuspielende Doppel-Single veröffentlicht wird. Radigue verfolgt in dieser Zeit einen sehr plastischen musikalischen Ansatz, betrachtet Klang als Material, das einen Raum ausfüllen und formen kann, und präsentiert Arbeiten, die von ihr selbst als „propositions sonores“ bezeichnet werden, im Grunde aber Klanginstallationen sind, nur wird dieser Begriff zu jener Zeit noch nicht verwendet. Eines ihrer ersten Stücke mit einem festen zeitlichen Verlauf ist Opus 17, das sie Ende 1970 komponiert, gleichzeitig regt sich in ihr der Wunsch, ihre Klangpalette zu erweitern. Als sie von den ersten modularen Synthesizern hört, beschließt sie, in die USA zurückzukehren, wo sie sich im Rahmen einer Residency an der New York University mit der Funktionsweise des Buchla-Synthesizers vertraut macht. Dabei lernt sie auch Laurie Spiegel und Rhys Chatham kennen, die ebenfalls in den Studios der New York University arbeiten. Nach einer Zeit des Experimentierens entscheidet sie sich jedoch für den ARP 2500, was nachvollziehbar ist, wenn man auf folgendes Detail achtet: Radigue weigert sich, ein Keyboard zu verwenden, „um es mir nicht zu leicht zu machen“, und generiert und steuert die Klänge direkt über die Bedienelemente des Synthesizers.
Zwischen 1971 und 1974 entstehen ihre ersten elektronischen Werke, die nicht mehr auf asynchronen Tonbandloops basieren, sondern auf einer Kompositionsweise, die zu ihrem „Markenzeichen“ wird und sich in subtilen Veränderungen vollzieht, im kaum wahrnehmbaren Übergang von einer Klangwelt zu einer anderen. Es kommt zu ersten Aufführungen ihrer Musik, die laut Michel Chion so „unendlich diskret ist, dass neben ihr jede andere Musik ärmelzupfend um Aufmerksamkeit zu heischen scheint“. Mit dem ARP 2500 kann sie noch dazu so tief in die Welt der Obertöne und pulsierenden Drones eindringen, dass die Musik mitunter „aus den Wänden zu kommen“ scheint, wie es Tom Johnson einmal beschreibt. Zu diesen frühen Kompositionen Radigues gehören Chry-ptus (1971), Geelriandre (1972) – ein Werk, das allein schon deswegen einzigartig ist, weil sich hier das präparierte Klavier von Gérard Frémy (der seit 1969 ein glühender Verteidiger ihrer Arbeit ist) und die schwebenden Klänge des ARP ineinanderfügen –, des Weiteren Ψ 847 (1973) und Arthesis (1973), in denen auch der Moog des California Institute of the Arts zum Einsatz kommt, Biogenesis (1973), Transamorem – Transmortem (1973), eines ihrer letzten als Klanginstallation konzipierten Stücke, und Adnos I (1974).
Nach einer Aufführung von Adnos I in San Francisco im Jahr 1974 erweckt eine Gruppe französischer Studenten in ihr Interesse für den tibetischen Buddhismus. Wieder zurück in Paris, begibt sie sich ernsthaft auf die spirituelle Suche, sodass ihr musikalisches Schaffen praktisch zum Stillstand kommt. Zwischen 1978 and 1993 komponiert sie dann einige ihrer herausragendsten Werke: Adnos II (1980), Adnos III (1981), Songs of Milarepa (1983) mit den Stimmen von Lama Kunga Rinpoche und Robert Ashley, Jetsun Mila (1986) sowie die drei Teile der Trilogie de la mort mit den Titeln Kyema (1988), Kailasha (1991) und Koumé (1993). Sie alle sind vom tibetischen Buddhismus inspiriert und beeinflusst, aber dennoch profane, sinnlich erfahrbare Musik – was Eliane Radigue immer wieder betont. Die Arbeit an der Trilogie ist auch mit einem schweren Schicksalsschlag verbunden, im Jahr 1989 kommt ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben.
Im Jahr 1998 wird Radigue eingeladen, zwei Monate am Mills College in Oakland zu unterrichten, wo sie Labyrinthe sonore präsentiert, einen mit dem ARP realisierten Klang-Parcours, in dem zahlreiche MusikerInnen, darunter Pauline Oliveros, Maggi Payne, William Winant und David Abel, solistische Akzente setzen. 2000 komponiert sie mit L’île re-sonante ihr letztes elektronisches Werk, für das sie 2006 bei der Ars Electronica in Linz mit der Goldenen Nica ausgezeichnet wird.
Auf eine Anfrage von Kasper Toeplitz hin fängt sie 2003 an, Stücke für InstrumentalistInnen zu komponieren, mit denen sie während des schöpferischen Prozesses immer einen intensiven Austausch pflegt. Seit ihrer Zusammenarbeit im Jahr 2004 mit Charles Curtis, einem virtuosen Cellisten, für den La Monte Young und Alvin Lucier Stücke geschrieben haben, liegt ihr Fokus ausschließlich auf akustischen Instrumentalklängen, wobei sie ihre kompositorische Herangehensweise auf Basis der Erfahrungen mit dem Cello zunächst mit zwei Bassetthörnern, gespielt von Carol Robinson und Bruno Martinez, fortsetzt. In enger künstlerischer Kollaboration mit diesen drei InstrumentalistInnen entsteht so der bemerkenswerte dreiteilige Zyklus Naldjorlak. Den Kompositionen von Eliane Radigue liegen weiterhin unendlich filigrane und berückende Klänge zugrunde, sodass ihr aktuelles Schaffen keinen Bruch mit der Ästhetik und Schönheit ihres elektronischen Werkes darstellt.
Emmanuel Holterbach (Übersetzung Friederike Kulcsar)